Wie der Titel "4 3 2 1" bereits andeutet, spaltet Auster Fergusons Geschichte auf. Genauer gesagt:
Er erzählt in vier parallelen Strängen viermal das Leben des Archibald Isaac Ferguson. Wir haben es hier nicht
mit einem Coming of Age- und Bildungsroman zu tun, sondern gleich mit vieren. Da ist es, das Auster’sche
Urmotiv des Zufalls. Die Grundidee des Romans formuliert ironischerweise der sechsjährige Ferguson selbst,
kurz nachdem er sich bei einem Sturz von einem Baum ein Bein gebrochen hat:
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Doch andererseits zeichnet Auster in vielen Passagen in aller Breite das Bild einer aufbegehrenden
Generation. Angefangen von der Ermordung Kennedys über den Vietnamkrieg bis hin zu den blutigen
Rassenunruhen
in Newark im Jahr 1967 lesen wir in "4 3 2 1" von jungen Menschen, die von den Ereignissen
überrollt
werden und denen nach und nach das Grundvertrauen in ihr Land entzogen wird.
"Sie waren anders als die Jahrgänge über ihnen – aggressiver, ungeduldiger, eher bereit, sich zu
erheben und gegen Dummheit, Selbstgefälligkeit und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Während die meisten älteren
Studenten immer noch an das glaubten, was ihnen in den Fünfzigern eingetrichtert worden war, begriffen
Ferguson und seine Freunde, dass sie in einer irrationalen Welt lebten, in einem Land, das seine
Präsidenten
ermordete, Gesetze gegen die eigenen Bürger erließ und seine jungen Männer in sinnlosen Kriegen sterben
ließ."
Die Politisierung durch Vietnam-Krieg und Bürgerrechtsbewegung ist der äußere Antrieb für die Fergusons:
Wenn
die Welt brennt, wird man selbst entflammt.
In jeder der einzelnen Geschichten ist der Protagonist, Spross einer osteuropäischen, jüdischen Familie,
derselbe und nicht derselbe. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob Archie vaterlos aufwächst, ob die
Familie in der Provinz oder in New York lebt, ob sie mit ihrem Unternehmen (Elektrowaren) zur Upperclass
zählt
oder schleichend verarmt. Das hört sich kompliziert an und ist es zunächst auch. Der Roman, der in den
fünfziger und sechziger Jahren spielt, stößt einen anfangs gnadenlos in die Verwirrung. Man darf ihn nicht
für
längere Zeit weglegen, sonst weiß man nicht mehr, mit welchen der vier Archies man es zu tun hat, mit dem
angehenden Journalisten, mit dem Schriftsteller oder Lyriker, mit dem Archie, der sich als Kind den Arm
gebrochen hat, oder dem, der bei einem Autounfall zwei Finger verloren hat, mit dem Archie, der auch mit
anderen Jungs schläft und sich ansonsten mit Prostituierten vergnügt, oder dem, der eine eher langweilige
und
glückliche Langzeitbeziehung hat. Die Konfusion ist natürlich Absicht, denn Auster führt ein Experiment vor:
Wie sehr verändert sich der Charakter eines Menschen mit den Umständen, in denen er lebt? Die Antwort
lautet:
völlig und so gut wie gar nicht.
Völlig, denn schon kleine Veränderungen wie eine etwas stärkere Eigensinnigkeit, Unausgeglichenheit und
Risikobereitschaft, die den vaterlosen Archie auszeichnen, ziehen andere Marotten, andere Freunde und
Geliebte
nach sich, andere Sexpraktiken und andere Abgründe. Alle Archies haben zwar etwas mit Amy Schneiderman, der
Tochter von Freunden seiner Eltern – die aber jedes Mal anders auf ihn reagiert, denn mit dem einen passt
sie
besser zusammen als mit dem anderen. Der Charakter Archies ändert sich durch kleine Nuancierungen für andere
völlig. Und gleichzeitig überhaupt nicht.
Die heranwachsenden Archies pubertieren mit der gut bekannten Quälerei, der Dauerunruhe und Sexbessenheit,
der
Sportbegeisterung, dem Baseball als Sex-Ersatz, der Selbsterniedrigung und Selbstüberschätzung. Und jede
oder
jeder neue Geliebte ist natürlich die größte Liebe des Universums, eine Liebe, wie es sie niemals gegeben
hat
und nie wieder geben wird, und nach ein paar Wochen ist sie auch wieder ganz vergessen und zur belanglosen
Episode geschrumpft. Sie leben mit glühendem Hass auf die Eltern und mit weinerlicher Anhänglichkeit an sie.
Mit störrischem Eifer, das Leben eigenständig zu führen, und der Einsamkeit von Langstreckenläufern. Mit dem
Sehnen, in jedem Augenblick des Lebens "ununterbrochen geliebt zu werden", selbst wenn
man
etwas tut, das einen wenig liebenswert macht.
Paul Auster teilt mit seinen Protagonisten das Geburtsjahr 1947. Und man bewundert ihn dafür, wie er sich
mit
seinen fast siebzig Jahren ohne auch nur den Hauch von altväterlicher Distanz oder Umständlichkeit in die
nervös schlagenden Herzen der Jungs hineinversetzt, und damit natürlich in sich selbst als Heranwachsenden.
Wie nebenher entfaltet er dabei das Panorama eines untergegangenen Amerikas, das noch in der tristesten
Vorstadt aufstiegsversessen ist, das sich an wachsendem Wohlstand, wachsender Mobilität und wachsender
gesellschaftlicher Liberalität erfreut – trotz der Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings, trotz
Rassenunruhen und Vietnam. Der Westen ist mit seinem fiesen, seinem fantastischen Kapitalismus, dem Jazz,
dem
Rock und Pop, seiner klassischen Musik und dem guten alten Humanismus so vital wie die reizbaren Teenager
selbst. Alle hadern mit ihrer Zeit und leben in der besten aller möglichen Welten. Das lässt sich im
Rückblick
leicht sagen …
Ein Buch mit einer lang anhaltenden Wirkung. (hn)