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Buchbesprechung …
Die Deutschen scheinen zur Selbsttäuschung zu neigen. Es ist fast egal, wie viel jemand verdient, viele fühlen sich "fast reich", nur 9 Prozent in Westdeutschland ordnen sich der Oberschicht zu und zur Unterschicht wollen nur 3 Prozent gehören - obwohl die ökonomische Realität völlig anders aussieht.
Zwar wisse die übergroße Mehrheit durchaus, dass die soziale Herkunft entscheidend sei, um zu Reichtum zu gelangen, doch über zwei Drittel glaubten an die "Leistungsgesellschaft". "Obwohl die meisten klar erkennen, dass die Startchancen keineswegs gleich verteilt sind, wird Reichtum umstandslos akzeptiert." (48) Es ist geradezu paradox - an selbst profanen Beispielen, wie etwa der Partnerwahl (65) oder der "Begabtenförderung" (66ff.) ja sogar der Wahl der Vornamen für die Kinder (101ff.) kann Ulrike Herrmann belegen, dass sich die Schichten immer stärker voneinander separieren und sich insbesondere die Elite immer mehr abschottet (65).
Unter dem Stichwort "Schickedanz-Syndrom" beschreibt die Autorin das "seltsame Phänomen", dass zwar objektiv der Reichtum zunehme, sich subjektiv aber immer mehr Reiche um ihre Zukunft sorgten. Die Reichen würden arm gerechnet, während die Armen zu den Reichen ernannt würden, die als Schmarotzer lebten und die "Leistungsträger" aussaugten (Sloterdijk-Debatte).
Typisch dafür, wie sich die Reichen arm rechneten, sei der Verweis auf die Einkommensteuerstatistik, wonach etwa die obersten 20 Prozent der Steuerbürger über 70 Prozent des Gesamtaufkommens stemmten. Dabei würde allerdings verschwiegen, dass die Reichen keineswegs übermäßig belastet würden, denn selbst Spitzenverdiener zahlten im Durchschnitt nur 23,8% an Steuern auf ihr Einkommen. Selbst Multimillionäre wüssten sich arm zu rechnen. Der Verweis auf die Einkommensteuer sei aber auch schon deshalb eine Irreführung, weil diese Steuerart schon fast zur "Bagatellsteuer" verkommen sei (77) und sich der Staat immer stärker durch die indirekten Steuern finanziere, die alle gleich betreffen. Für 2010 sei etwa die Körperschaftssteuer mit 7,2 Milliarden Euro niedriger eingeplant als die Versicherungsteuer mit 10,45 Milliarden Euro. Bei den Sozialabgaben würden die Reichen sogar prozentual weniger belastet als die Mittelschicht – ein recht seltener Fall auf der Welt (78).
Herrmann geht in weiteren Kapiteln dem Phänomen nach, warum sich die Mittelschicht so willig täuschen lasse. Als einen Grund nennt sie, dass die Nachkriegszeit und das Wirtschafswunder mental fortwirkten. Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) habe die Selbstdeutung der Deutschen nachhaltig beeinflusst. Hierarchien oder der Klassenbegriff waren im Sprachgebrauch verschwunden und "Schichten" wurden von "Milieus" abgelöst. Teilhabe am Konsum sei maßgebend geworden. Dabei seien es nur verschiedene Arten gewesen, mit der eigenen Armut umzugehen – Armut sei Armut geblieben (86). Wenn Wut hochkomme, dann richte sie sich allein auf Manager und Politiker, aber nicht auf Millionäre oder Milliardäre.
Ein weiteres Element des Selbstbetrugs sei die Bildung oder wenigstens die Hoffnung, dass zumindest die Kinder aus der Mittelschicht aufsteigen könnten. Schon im Kleinkindlebenslauf fände inzwischen "eine Art Wettrüsten" statt. Der eigentliche Stress beginne aber mit der Schule bzw. der Schulauswahl. Der Massenandrang auf die Gymnasien entwerte das Abitur, das kein Erkennungszeichen der Eliten mehr sei, daraus erkläre sich der Drang vor allem besser Verdienender, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Die Mittelschicht-Eltern bemerkten gar nicht, dass sie sich auf einen Konkurrenzkampf einließen, den sie nie gewinnen könnten. Statt darauf zu drängen, dass die staatlichen Schulen besser ausgestattet werden, fordere die Mittelschicht Steuersenkungen, wovon vor allem die Eliten profitierten, und entzögen damit dem Staat noch die letzten Mittel für eine Bildung, die für mehr Chancengleichheit nötig wären.
Zwar habe es in der deutschen Mittelschicht schon immer Abstiegsängste gegeben. Der Krisendiskurs sei stets ein Medium bürgerlicher Selbstverständigung gewesen, neu sei jedoch, dass die Sorgen durchaus berechtigt seien. Gehörten 2000 noch 49 Millionen Menschen der Mittelschicht an, so waren es 2006 nur noch 44 Millionen. Gleichzeitig fand sich rund ein Viertel aller Bundesbürger in der Unterschicht wieder (121).
Ulrike Herrmann geht dem Phänomen dieses Abstiegs nach, den sie als "deutschen Sonderweg" bezeichnet (123), denn ökonomisch seien etwa die fallenden Reallöhne nicht zu erklären (125). Ihr scheint das eine Frage der Mentalität zu sein. So sei es auffällig, wie stark sich die Deutschen immer wieder von dem Arbeitgeber-Argument beeindrucken ließen, die Löhne dürften kaum steigen, weil sonst die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährdet sei.
"Die deutsche Mittelschicht nimmt ihren eigenen Verlust nicht wahr, weil sie sich nach unten abgrenzen kann" (126), die Zuversicht, niemals zum Prekariat zu gehören, verleite die Mittelschicht, sich mental mit den Unternehmern zu verbünden.
Die Verachtung für die Unterschicht wachse sogar, je stärker der eigene ökonomische Status bedroht werde. Die Gesamtstimmung in Deutschland sei: "Wer arm ist, muss sich den Verdacht gefallen lassen, eventuell ein Betrüger zu sein" (130). Dieser uralte und nicht nur in Deutschland verbreitete Generalverdacht sei mit der Agenda 2010 offizielle Regierungspolitik geworden, wie Ulrike Herrmann mit zahlreichen Belegen untermauert. Die Wirkung blieb nicht aus: Nach einer Erhebung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer im Jahre 2009 meinten 47 Prozent der Bevölkerung, dass Langzeitarbeitslose "arbeitsscheu" seien und sogar 57,2 Prozent nahmen an, dass sich Hartz-IV-Empfänger "auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben machen" (135).
Dem von manchen "Experten" (Sarrazin, Nolte, u.a.) und vom "Boulevard" erzeugten Zerrbild über die "Unterschicht", von dem sich die Mittelschicht nobel abhebe, wurde durch massive Kampagnen mit absurden Rechenbeispielen untermauert, wonach sich Arbeitslose besser stellen als Arbeitsplatzbesitzer. "Statt wahrzunehmen, dass die eigenen Realeinkommen fallen, vermutet man lieber, dass die Hartz-IV-Empfänger zu viel kassieren" (155). Das Spiel, das die Mittelschicht mit sich treiben lasse, funktioniere folgendermaßen: "Die Reichen rechnen sich arm, während die Armen reich gerechnet werden. Damit verkehrt sich die Wahrnehmung, was eigentlich Ausplünderung ist. Es sind nicht mehr die Unternehmer, die ihre Angestellten ausbeuten – stattdessen beuten angeblich die Armen die Mittelschicht aus" (158).
Wenn die Mittelschicht aber erst einmal glaube, dass der Staat nur noch den Armen nutze, dann stimme sie auch Steuersenkungen zu, von denen tatsächlich nur die Begüterten profitierten.
"Umverteilung" sei in Deutschland ein "Tabuwort", aber es werde permanent umverteilt – bisher allerdings von unten nach oben (179). Die Finanzkrise verstärke den Umverteilungsprozess: Zum einen, weil der Staat das Vermögen der Eliten rettete, indem er die Banken gestützt hat. Zum anderen, weil der Staat dafür Schulden aufnehmen musste und diese Kredite wiederum vor allem von den Eliten gewährt würden, die dafür die Zinsen kassierten. Bisher sehe es ganz danach aus, dass die Mittelschicht alleine auf den Kosten der Finanzkrise sitzen bleibe.
Ulrike Herrmann liefert keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Streitschrift in aufklärender Absicht. Ihr Buch "Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht" ist ein journalistisch gut geschriebenes und eingänglig lesbares Buch. Es hält der herrschenden Ideologie "der Mitte" einen Spiegel vor, aus dem sich ein realistisches Selbstbild der Mittelschicht widerspiegelt, das aber so gar nicht dem entspricht, was diese Schicht sich selbst einbildet und was ihr täglich von den mächtigen Eliten eingeredet wird.
Es bietet eine Fülle von Fakten und nachvollziehbaren Argumenten - gegen die Westerwelles, Sarrazins, Merkels und Scheuerls (Volksabstimmung gegen die Hamburger Schulreform).