Mittlerweile sind 3 Bände von Emmy Hennings Gesamtwerk im Wallstein-Verlag erschienen:
Annäherung an eine Dichterin und Kabarettistin: Aus der großen Kugel fallen
"Ich singe die Unendlichkeit! O Zeit, bist du so eingeschneit?":
Eine hervorragend editierte Studienausgabe ihrer Gedichte befreit Emmy Hennings vom Ruf der Femme fatale
und zeigt sie als Mystikerin.
Von Nico Bleutge - Süddeutsche Zeitung
Am 4. Februar 1916 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung eine Vorankündigung folgenden Inhalts:
"Künstlerkneipe ,Voltaire'. Am Samstag abends 8 Uhr werden im Saale der ,Meierei'
(Spiegelgasse 1) aus eigenen Werken lesen: die Herren Rudolf Anders und Hugo Ball sowie Frau Emmy
Hennings. Frl. Riesa Helm singt Lieder am Flügel, Frau Hennings Lieder zur Laute." Auch wenn sich der
Berichterstatter der NZZ in seiner wenige Tage später veröffentlichten Besprechung des Abends vor allem
für das "aus sechs russischen Herren bestehende Balalaika-Orchester mit Gitarrenbegleitung"
begeisterte - Emmy Hennings wurde schnell als der leuchtende Stern der Veranstaltung ausgemacht. "Man
liebt sie unaussprechlich", notierte Hugo Ball nur wenige Wochen nach der Premiere.
Aus der "Künstlerkneipe ,Voltaire'" sollte das berühmte Cabaret Voltaire werden. Hier
wurden nicht nur Gedichte rezitiert und Chansons gesungen, hier wurde auch der Dadaismus aus der Taufe
gehoben. Hugo Ball trug seine Lautgedichte vor und Richard Huelsenbeck schlug die Trommel, nicht zuletzt
gegen den Krieg und für eine andere Vorstellung von Kunst. Dabei war die Rollenzuschreibung von Beginn an
klar. Die Frauen, allen voran Emmy Hennings, wurden hauptsächlich als Sängerinnen und Musen wahrgenommen,
die "kleine zärtliche Chansons" vortragen, die Würdigung als Avantgarde-Dichter blieb den
Männern vorbehalten, neben Hugo Ball und Tristan Tzara etwa Hans Arp oder Klabund.
Ihr Lebensentwurf war gewollt, mit den Rollenbildern ihrer Zeit hat sie sich intensiv beschäftigt.
Emmy Hennings war sich dieser Projektionen bewusst. Und sie waren ihr eine vertraute Erfahrung. Schon in
den Jahren zuvor, während ihrer Zeit in Berlin und München, hatte man sie vornehmlich als Chansonette
gesehen. In ihren Kabarettauftritten oder in Briefen hat sie solche Zuschreibungen genau reflektiert.
Heute noch wird sie immer wieder als "Star der Münchener Bohème" oder der Züricher Szene
bezeichnet, gerne mit Verweis auf ihre "erotische Ausstrahlung" und das Klischee einer
unersättlichen Lust auf das Leben. Dahinter steckt nicht selten ein nur lose kaschierter Vorwurf gegenüber
Hennings' Lebensführung: dass sie Drogen nahm und ihren Lebensunterhalt zeitweilig mit Prostitution
verdienen musste, dass sie vor der Beziehung mit ihrem späteren Ehemann Hugo Ball jahrelang als
Wanderschauspielerin unterwegs war und wegen des Verdachts auf "Beischlafdiebstahl" und Hilfe
zur Desertion mehrere Monate im Gefängnis saß.
Völlig in Vergessenheit gerät über solche Deutungen, wie intensiv sich Emmy Hennings mit den
Rollenbildern ihrer Zeit und den Widersprüchen bürgerlicher Moral auseinandergesetzt hat, wie gewollt der
Lebensentwurf eines dauernden Unterwegsseins war. Erst recht aber wird verdrängt, was für eine großartige
Dichterin sie war. Schon in ihrem Erstling "Die letzte Freude" von 1913 schreibt sie intensive
"Ätherstrophen", die sich wie ein positiv aufgeladenes Gegenstück zu Jakob van Hoddis'
expressionistischer Phantasmagorie "Weltende" lesen lassen: "Jetzt muss ich aus der großen
Kugel fallen. / Dabei ist in Paris ein schönes Fest. / Die Menschen sammeln sich am Gare de l'est /
Und bunte Seidenfahnen wallen." Allerdings ist ihren Versen von Beginn an ein Nachdenken über die
Zeit eingezogen, über Traumzustände und die Wahrnehmung der Nacht.
Dazu kommt eine mit Verlassenheits- und Einsamkeitsfantasien verknüpfte lebenslange Sehnsucht, die mal
der Wunsch nach einer umfassenden Einheit aller Momente ist, mal nichts als eine "Sehnsucht nach der
Sehnsucht". Wolkig wirken die Verse glücklicherweise nie. Hennings schließt romantisches Vokabular
mit nüchternen Gegenwartswörtern wie "Möbel" oder "Krankenhaus" kurz, sie spielt mit
dem Rhythmus und verwendet Einsprengsel von Seemannsliedern, die ihr aus ihren Kabarettprogrammen vertraut
sind.
All diesen "verlorenen Paradiesen" kann man jetzt in einem schön gemachten Band nachgehen.
Nicola Behrmann, die schon in einem sehr lesenswerten Buch versucht hat, Hennings aus den
Geschlechterklischees und Verdrängungsbewegungen der Rezeption herauszulösen und sie als Dichterin in die
Geschichte der Avantgarde einzuschreiben, hat mit ihren Kolleginnen eine Studienausgabe zusammengestellt.
Darin sind nicht nur jene Gedichte enthalten, die zu Hennings' Lebzeiten erschienen sind, sei es in
ihren drei Einzelbänden, sei es in Zeitschriften oder Anthologien, sondern auch alle Gedichte aus dem
Nachlass und eine Handvoll Prosaskizzen, die sie vermutlich zwischen 1913 und 1917 geschrieben hat. Anhand
der aufgelisteten Varianten und kleiner Kommentare kann man die Entstehung der Gedichte nachvollziehen.
"Die Berge Jütlands und blaue Heide / Und in Vaters Hof fielen manchmal die Sterne", heißt es
in einem Gedicht. Tatsächlich waren die Berge Jütlands die Ostseeküste, und der Vater war im Schiffsbau
beschäftigt, als Emmy Hennings 1885 in Flensburg zur Welt kam. Schon mit 16 verließ sie die Familie,
heiratete früh, bekam ein Kind, ließ sich bald wieder scheiden und zog mit wechselnden Theatergruppen
durch die Lande. Als sie später im Münchener "Simplicissimus" als Kabarettistin bekannt wird,
verdichten sich die inneren und äußeren Spannungen und sie konvertiert zum Katholizismus.
Die Hinwendung zur Religion ist eine einschneidende Erfahrung, die auch in die Gedichte einwandert. Die
lebenslange Sehnsucht erscheint nun immer wieder als eine Sehnsucht nach Gott. Hennings liest Texte der
mittelalterlichen Mystik, von Meister Eckhart etwa oder Mechthild von Magdeburg, und verwandelt sich deren
sprachliche Mittel für ihre Gottsuche an. Ziel der mystischen Bewegung ist die Verschmelzung mit dem
Anderen. Es ist eine Erfahrung, die sich, eben weil es um das Aufheben jeder Unterscheidung geht, der
vermittelnden Sprache eigentlich entzieht.
Um das Erlebnis der mystischen Unio aber doch teilen zu können, haben die Mystikerinnen und Mystiker nach
sprachlichen Wegen gesucht, die Momente dieser Erfahrung in sich tragen. Paradoxien und Fragen sollen
etwas von der Widersprüchlichkeit der ekstatischen Bewegung zeigen, Metaphern und Vergleiche ihre
Strahlkraft andeuten, Litaneien und andere Arten von Wiederholung den meditativen Charakter der mystischen
Erfahrung in die Form des Sprechens einsenken. Bei Emmy Hennings klingt es so: "Ich singe die
Unendlichkeit! / O Zeit, bist du so eingeschneit? / So weiß gesungen, rosenrot! / Du Frucht der Liebe,
Blut vom Tod! / Hör mein Verschwörerlied zur Nacht! / Tiefe im Tag, nachthell entfacht. / Wie bist du
weinend, wie lächelnd erwacht …".
Es ist spannend zu beobachten, dass Hennings zwar tief in die religiöse Bildsprache eintaucht, die
religiösen Motive aber auch ein ums andere Mal übersteigt. So wird Maria bisweilen weniger als
"Mutter mit der Dornenkrone" oder als Inbegriff einer traditionellen Vorstellung von
Weiblichkeit besungen, sondern als Bild für die ersehnte Ganzheit, als "Saum der Allmacht" oder
"Wiege des Lichtes". Und fast möchte man meinen, die Suche nach Gott sei manchmal mehr noch eine
Suche nach dem perfekten Vers: "Wenn du nicht Sehnsucht hast nach mir, / Wie könnt ich sehnen mich
nach dir? / Du süßer Gott, o himmlisches Gedicht! / Was denkt dich an? Sieh mein Gesicht!" Gott
erscheint hier als Gedicht, doch scheint nicht zugleich das Gedicht ein Gott zu sein?
"Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank"
Noch länger als ihre mystischen Metamorphosen aber wirken jene Verse nach, in denen sich Hennings von den
liedhaften Formen löst und nicht nur funkelnde Bilder entwirft, sondern auch einen Rhythmus mit
zahlreichen Wechseln. "Einmal deuteten unsere Prismaaugen den Regenbogen", setzt ein Ensemble
wundersamer Langzeilen ein. So wie in den Prismaaugen die Wahrnehmungen unterschiedlich stark gebrochen
werden, spaltet sich die Rede in verschiedene Sprechweisen auf und macht diese Sprechweisen ihrerseits zum
Thema: "Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen / Und erwiderten die
Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank." Es ist ein Gedicht über den Baum der Erkenntnis und den
Verlust des Paradieses. In einer großartigen Paradoxie finden die Verse gerade dort zu Metrum und Reim, wo
sich Grübelei und "Suchersehnsucht" ausbreiten. Und nicht von ungefähr reimt sich nun
"Wahn" auf "Sternenbahn."
Man muss die vielen Traumreisen, Mariengedichte und "kleinen Heimwehlieder" mögen, die Hennings
in ihren späteren Jahren geschrieben hat. Das Gefühl des Anders- und Alleinseins, das sie auch in ihrer
Prosa entfaltet, durchzieht nun beinahe jeden Vers. Souveränitätsgesten, wie man sie zur selben Zeit etwa
bei Else Lasker-Schüler finden kann, sind ihr fremd. Doch gerade so entsteht eine Dichtung, die in ihrer
Brüchigkeit modern ist. Emmy Hennings stirbt 1948. In ihren letzten Gedichten inszeniert sie ein Sprechen
der "Sterne und Menschen", das sich immer schon fremd ist - und das auf die Erinnerung setzt:
"O, diese Wechselmelodie / Mein Lied, das rasch der Wind verstreicht, / Das in mir lag, vergess ich
nie. / In Kinderschuhen hüpft sichs leicht."